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Geschichte von Industriebetrieben in Mittelhessen-
Eine Webseite des "Mittelhessen e.V". des RP Gießen und des "Netzwerkes Industriekultur Mittelhessen"
Die Glockengießerei gehört zu dem anspruchsvollsten Handwerken, was wir nicht zuletzt nach Schillers Gedicht wissen. In Sinn gießt die Familie Rincker seit ca. 450 Jahren Glocken und ist damit der älteste bestehende Glockengießerei Europas und einer der ältesten Familienbetriebe. Heute steht nicht mehr der Neuguss, sondern viele Dienstleistungen rund um die Glocke zur Hauptarbeit des Unternehmens.
1575 erwarb Hans Rincker in Aßlar ein Grundstück und stellte dort, wie auch in Edingen nahe der Burg Greifen-stein, Glocken, Geschütze und andere Produkte her. Seine Söhne ließen sich in Aßlar und Altenstädten bei Aßlar nieder und reisten von dort zu den Orten im heutigen Bereich von Hessen, Westfalen, Niedersachsen und der Pfalz, um dort Glocke zu gießen. Dieses war wegen der Zollschranken auf Grund der Kleinstaaterei und schwieriger Transportmöglichkeiten für sie der einfachere Weg.
Von dem Nachfahre Jacob Rincker (1647-1744) ist bekannt, dass er auf seinen weiten Reisen bis zu seinem Tod 1744 mehr als 60 Glocken gegossen hat, wovon die meisten noch existieren. Die erste nachgewiesene Glocke hat er in 1638 für die Kirche in Ober-Högern in der Wetterau zusammen mit Antonius Fei und Dilmann Schmid gegossen.
Sein Sohn Wilhelm Anton Rincker, ebenfalls aus Aßlar, galt als bedeutender Meister der Familie. Auch er hat als Wandergießmeister im weiten Umkreis viele Glocken gegossen. Einer seiner Söhne, Moritz Rincker, betrieb ab 1755 in Osnabrück eine Glockengießerei. Diese musste aber mangels eines Nachfolgers 1800 wieder aufgegeben werden. Seine Brüder Heinrich und Philipp Rincker gründeten ihr Unternehmen in Leun bei Wetzlar im Lahntal. Die Familienchronik nennt Gottfried Rincker, der von Leun 1820 nach Elberfeld (heute ein Teil von Wuppertal) zog und dort im Bergischen Land und im Rheinland tätig war. Er errichtete Werkstätten in Affeln im Sauerland und in Westhofen bei Unna in Westfalen. Auch diese Wirkungsstätten mussten wegen fehlender Nachfolger aufgegeben werden.
Der junge Philipp Heinrich Rincker verlegte 1817 sein Unternehmen aus dem preußischen Leun in den nassauischen Sinn im Dilltal (zwischen Wetzlar und Herborn), dem heutigen Sitz der Glockengießerei. Sein ältester Sohn Heinrich Wilhelm wanderte in 1840er Jahren die Vereinigten Staaten aus und gründete in 1864 in Chicago eine Glockengießerei, in der sehr berühmte Glocken gegossen wurden. Auch in St. Louis gründete er ein Unternehmen. Weil die Geschäfte gut gingen, folgten ihm seine vier jüngeren Brüder nach Amerika. Friedrich Wilhelm Rincker, der zweitjüngste der Brüder, kehrt später aus den USA zurück, um die Tradition der schon über 250 Jahre alten Glockengießerei, in bereits mindestens neunter Generation, fortzuführen. Philipp Heinrich Rincker starb 1868.
Um 1900 wurde die Glockengießerei in Sinn um eine Eisengießerei und eine Landmaschinenfabrik erweitert. Zum Erlernen modernster Techniken, vor allem für den Bau von Landwirtschaftsmaschinen, gingen Friedrich Wilhelm Rincker und sein Sohn August in die Vereinigten Staaten. Dort erlernten Sie moderne Verfahren zur Herstellung von Temperguss der für Bauteile verwendet wird, die dynamischen Beanspruchungen (schwingend oder stoßartig) ausgesetzt sind (typisch für Landmaschinen) und hohen mechanischen Kräften widerstehen müssen (Fahrwerks- und Lenkungsteile von Fahrzeugen).
Von großer Bedeutung wurde August Rinckers Freundschaft mit dem seinerzeit in den Staaten bekannten Akustiker Georg Appunn, der ein Verfahren weiterentwickelte, um mit verstellbaren Simmgabeln die Teiltöne einer Glocke genauestens zu ermitteln. Ein Meilenstein in der Glockentechnik.
Im Ersten Weltkrieg ruhten in Sinn alle Geschäfte.
August Rinckers Sohn Friedrich (Fritz) baute zusammen mit Buderus (seinerzeit größter Stahlhersteller Deutschlands) in Wetzlar eine Stahlglockengießerei auf, da in der Nachkriegszeit keine Buntmetalle zur Verfügung standen. Die Glocken trugen die Aufschrift „Buderus in Wetzlar und Rincker in Sinn“. Die Stahlglockengießerei wurde aber 1921 wieder geschlossen. Stattdessen baut Fritz 1922 in Budapest-Czepel eine Bronze-Glockengießerei auf und goss in Ungarn, Rumänien und Serbien bis 1928 über 2000 Glocken, denn die Nachfrage war in katholischen Gegenden größer. Seine größte Glocke ist mit 8,5 Tonnen die Ungarische Freiheitsglocke, die heute im Dom zu Szeged hängt.
Nach dem Tod seines Vaters führte er mit seinem Bruder Curt die Glockengießerei unter der Firma „Gebrüder Rincker“ in Sinn fort.
Nach dem Zweiten Weltkrieg standen beide vor einem schwierigen Anfang. Aufträge kamen aber aus aller Welt, besonders aus Afrika, Lateinamerika und Skandinavien. Der größte Auftrag war 1960 die Lieferung für das sechsstimmige Geläute für die Gedächtniskirche in Berlin. Bis zu seinem Tode 1969 goss die Glockengießerei Rincker 14.000 Glocken in Bronze und ca. 500 zusammen mit Buderus in Stahl sowie einige hundert aus einer Kupfer-Silizium Legierung.
1962 übernahm Rincker die Glockengießerei eines seiner Lehrmeister Wilhelm Kurtz in Stuttgart und erweitert damit das Absatzgebiet in Süddeutschland. Alle Glocken, also auch die Aufträge aus Stuttgart, wurden jetzt in Sinn gegossen.
Nachdem Fritz Rincker 1969 gestorben war, führte sein Sohn Hans Gerd das Unternehmen in Sinn. Die nachkriegsbedingte Aufbauphase war beendet und Kirchenaustritte führten dazu, dass kaum noch nach Glocken nachgefragt wurde. Mit seinem Onkel Curt baute er daher zusätzlich eine Kunstgießerei auf, die sehr erfolgreich wurde, denn Kunst am Bau, in Fußgängerzonen und Parks wurden zunehmend populär. 1990 starb Fritz mit nur 61 Jahren.
Seine Söhne Hanns Martin und Fritz Georg Rincker nutzten nach der deutschen Wiedervereinigung die Gunst der Stunde und kauften die Kunstgießerei in Lauchhammer und bauten sie zu der einzigen Glockengießerei in den neuen Bundesländern aus. Es wurden in den folgenden Jahren über 700 Glocken gegossen und unzählige Kunstgüsse hergestellt.
Einen ganz neuen Schritt unternahmen sie 2010 mit der Übernahme der Hamburger Turmuhrenfabrik W. Iversen Dimier & Ci. Nachf. Damit ergänzten sie ihr Angebot rund um den Kirchturm. Zugunsten des Standortes Hamburg, der in neue Gebäude einzog, wurde die Kunstgießerei in Lauchhammer verkauft.
2013 wurde für den beeindruckenden ‚Dom‘ in Lampertheim (gegenüber von Worms), der im Krieg zerstört worden war, die 20.000ste Glocke der Glockengießerei gegossen werden. Die Domkirche hat mit ihren 6 Glocken eines der größten und schönsten Geläute der Landeskirche Hessen und Nassau. Die Bronzeglocken wurde am 6. Sonntag nach Trinitatis, 7. Juli 2013 geweiht.
Als zukünftiger Nachfolger des Unternehmens bestand Christian Rincker 2015 die Prüfung zum „Metall- und Glockengießer“. Der Guss neuer Glocken wird eine Ausnahme bleiben. Wartungsverträge für Glocken, Läutanlagen, Turmuhren, und Kunstobjekte werden das Hauptgeschäft bleiben.
"Heutzutage sind nicht mehr die Neugüsse der Glockengießerei und Kunstgießerei wirtschaftlich alleine entscheidend, der Bereich des Service in und am Kirchturm ist zu einem wichtigen Standbein geworden. So bestehen für beide Firmen mehr als 3500 Wartungsverträge mit Kirchgemeinden und kommunalen Trägern für Glocken, Läuteanlagen und Turmuhren, sowie in steigender Zahl auch für Kunstgussobjekte". (Rincker)