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Oberschelder Hochofenwerk

Vorgeschichte

 

Das Lahn-Dill-Gebiet ist durch einen großen Reichtum von Eisenerzlagerstätten gesegnet. Die Tradition der Eisenerzeugung reicht viele Jahrhunderte zurück. Schon Römer und Kelten erzeugten hier das begehrte Metall. In der Hochzeit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts standen Dutzende von Holzkohlehochöfen an Lahn und Dill. Doch der technische Fortschritt im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts veränderte die Roheisenerzeugung mittels Holzkohleverhüttung im Lahn-Dill-Revier gravierend. Die Engländer hatten schon die Verwendung der sehr viel wirtschaftlicheren Steinkohle bzw. des aus ihr erzeugten Koks zum Betreiben der Hochöfen entwickelt. Auch in den deutschen Kohlerevieren an Rhein und Ruhr entstanden große Hochofenwerke, die diese Technik nutzten. Diese hatten zwar keine Eisenerzgruben, aber es zeigte sich, dass es mittels der neu gebauten Eisenbahnstrecken viel billiger war, das Eisenerz zu den Kohlestandorten zu transportieren als umgekehrt die Steinkohle zu den Erzlagerstätten. Vor diesem Dilemma standen die Hochofenwerke mit Holzkohleverhüttung im Lahn-Dill-Revier, und eines nach dem anderen stellte die Roheisenerzeugung ein, zuletzt der Hochofen in Eibelshausen im Jahre 1898.

Eine große Anzahl ehemaliger Hüttenwerke war daher schon lange auf reinen Gießereibetrieb umgestiegen und bezog das Roheisen am Markt. Damit waren sie aber auch den Schwankungen der Marktverhältnisse ausgesetzt, was eine langfristige Kalkulation erschwerte.

Eines der großen Unternehmen im Lahn-Dill Gebiet war die Aktiengesellschaft „Hessen-Nassauischer Hüttenverein“ der Unternehmerfamilie Jung aus Steinbrücken im Dietzhölztal. Die Erben des bedeutenden Hüttenunternehmers J.J. Jung hatten sieben Hüttenwerke zu dieser AG zusammengeschlossen mit einer Direktion und einem Aufsichtsrat, um durch Synergieeffekte schlagkräftiger und wirtschaftlicher am Markt aufzutreten. Die Familie besaß zudem einen großen Eisengrubenbesitz, vor allem im Schelderwald. Das eigene Erz machte sie bisher von dem Ankauf von Roheisen am Markt unabhängig, solange sie das Roheisen selbst erzeugte. Das Roheisen aus ihren Gruben ergab ein hervorragendes Gusseisen mit besonderen für den Maschinenbau günstigen Eigenschaften und fand daher am Markt einen guten Absatz. Den Eisenstein selbst am Markt zu verkaufen, was die Folge einer Aufgabe der eigenen Roheisen-erzeugung gewesen wäre, erwies sich als außerordentlich problematisch. Der Grund dafür lag in seiner chemischen Zusammensetzung, die besondere Hochofenkonstruktionen und andere Produktionsprozesse verlangte. Als Ausweg aus dieser Situation entschloss sich der Hessen-Nassauische Hüttenverein Anfang des 20. Jahrhunderts dazu, über ein eigenes modernes Hochofenwerk mit Koksverhüttung zu beraten. Berechnungen hatten ergeben, dass die Erzvorkommen der Gruben für zwei Hochöfen mit einer Tagesleistung von 80 t viele Jahrzehnte eine wirtschaftliche Roheisenerzeugung ermöglichen würden. In der Zwischenzeit waren mit der Eisenbahnstrecke von Köln nach Gießen und weiterer Strecken von Herborn in das Scheldetal und von Marburg nach Laasphe sämtliche ihrer Werke, die zur Herstellung von Gusseisen das Gießereiroheisen benötigten, an das Ruhrgebiet und alle anderen Gegenden ihres Marktes angeschlossen worden. Nach ausführlicher Beratung mit verschiedenen Banken entschloss sich der Geschäftsführer und Direktor des Hessen-Nassauischen Hüttenvereins, der spätere Kommerzienrat Gustav Jung, ein eigenes auf modernster Technik ausgestattetes Hochofenwerk auf der Basis von Koksverhüttung zu errichten. Als Standort wählte er Oberscheld, einem Zentrum der Eisenhüttenindustrie zwischen Dillenburg und Herborn. Und Oberscheld lag etwa gleich entfernt von den ehemaligen Hüttenwerken und jetzigen Eisengießereien des Hüttenvereins, der Eibelshäuser Hütte, der Neuhütte in Ewersbach, der Ludwigshütte in Dautphe, der Amalienhütte in Niederlaasphe, der Wilhelmshütte in Biedenkopf und dem Gießereiwerk in Breidenbach.

 

 Das Hochofenwerk in Oberscheld

Mit dem Bau des ersten Hochofens wurde im Frühjahr 1904 an unteren Ortstrand von Oberscheld begonnen. Die Firmen Schmidt und Klein (Hochbau), S. Koenemund (Tiefbau) und die Siegerländer AG für Verzinkerei und Eisenkonstruktionen übernahmen die wichtigsten Bauarbeiten. Die Bauarbeiten wurden unter großen zeitlichen Druck ausgeführt, damit man de gerade rasch einsetzenden Konjunkturaufschwung nutzen konnte. Daher konnte bereits im Sommer 1905 der erste Abstich erfolgreich vorgenommen werden. Das Oberschelder Roheisen war von so ausgezeichneter Qualität, dass es sich nicht nur in den eigenen Betrieben bewährte, sondern auch von Betrieben aus dem gesamten Revier und anderen fremden Eisengießereien gerne abgenommen wurde. Mit den benachbarten Burger Eisenwerken hatte man sofort einen Dauerabnehmer.

In den Jahren 1907/08 brach die Konjunktur ein und es setzte ein heftiger, ungeregelter Wettbewerb auf dem Roheisenmarkt ein. Die Roheisenghersteller gründeten darauf hin im Jahre 1910 ein Syndikat zur Regulierung der Roheisenerzeugung. Auch der Hessen-Nassauische Hüttenverein trat dem „Roheisenverband GmbH“ bei,  der die Förderquoten der einzelnen Erzeuger koordinierte. Der Hüttenverein erhielt für seine zwei Hochöfen (der zweite war im selben Jahr fertig gestellt worden) ein Jahreskontingent von 40.000 t. In Oberscheld stieg die Roheisenerzeugung in den folgenden Jahren stetig aufwärts.

Während des Krieges wurde der Hochofen I aus Mangel an Kohle stillgelegt, aber auch mit dem Hochofen II war kaum ein geregelter Betrieb möglich. Nachdem die Franzosen das Ruhrgebiet besetzt hatten, wurde die Brennstoffversorgung massiv gestört. Die Kohle konnte nur unregelmäßig beschafft werden, teilweise kam sie sogar aus Oberschlesien oder gar aus dem Ausland. Mit der Inflation 1923 erlahme die gesamte deutsche Wirtschaft. Oft war gar kein Betrieb möglich und viele von den ca. 120 Arbeitskräften mussten entlassen werden.

Im Frühjahr 1926 wurde auch der Hochofen II nach einer Hüttenreise von 13 Jahren und acht Monaten ausgeblasen. In dieser Zeit hatte er 288.555 Tonnen Roheisen erzeugt.

Der Hochofen I war 1918 noch einmal repariert worden und wurde 1926 an Stelle des stillgelegten Ofens wieder in Betrieb genommen. Mit Erzen, die teilweise auch am Markt zugekauft wurden, konnte mit diesem einen Hochofen fast die Menge an Roheisen erzeugt werden, zu der man früher beide Öfen brauchte. Der Hüttenverein unternahm beträchtliche Investitionen in das Hüttenwerk. Die Gasreinigungsanlage für das Gichtgas war die erste in Deutsachland. Des Weiteren wurden ein Turbinenaggregat von 3500 kW und eine zentrale Schaltanlage aufgebaut. Dieser Ausbau bewirkte eine deutlich bessere Leistungsfähigkeit (Ausbringungsmenge) mit sich und führte zu einer besseren Wirtschaftlichkeit (Verhältnis Ertrag zum Aufwand).

Die Ende der 1920er Jahre und die beginnenden 1930 Jahre behinderte durch die Weltwirtschaftskrise die Produktion im Hochofenwerk und die Wirtschaftslage verschlechterte sich beim Hüttenverein selbst, da dieser mit seinen beschränkten Finanzmitteln und dem relativ schmalen Sortiment keine Ausgleichsgeschäfte tätigen konnte. Erst mit dem Beginn der Autarkiewirtschaft der nationalsozialistischen Regierung und Bildung eines Interessengemeinschaftsvertrages mit den Buderus’schen Eisenwerken in Wetzlar konnte der Hochofen wieder voll in Betrieb gehen. 

Die politischen Verhältnisse und die Lage des Hüttenvereins führten schließlich dazu, dass 1935 der Hüttenverein komplett von den Buderus’schen Eisenwerken übernommen wurde. Mit der zunehmenden, rüstungsbedingten Nachfrage nach Eisen konnte im Mai 1937 auch der Hochofen II wieder angeblasen werden. Dagegen musste der alte Ofen I nach einer Hüttenreise

von fast 13 Jahren stillgelegt werden.

 

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg brachte zunächst 1946 eine Volksabstimmung, die die Überführung u.a. der Montanindustrie in Gemeineigentum forderte. Im Sommer 1952 wurde die „Hessischen Berg- und Hüttenwerke AG Wetzlar“ mit dem Hochofenwerk in Oberscheld gegründet.

Erst im Juni 1960 konnte der Hochofen II wieder angeblasen werden. Der riesige Bedarf an Eisen zum Wiederaufbau Deutschlands führte dazu, dass dieser Ofen die größte Roheisenerzeugung in der Oberschelder Geschichte von fast 1 Million Tonnen im Jahr  erreichte.

Als bald die Im- und Exporte wieder ungehindert flossen, erzeugten die Stahlwerke im Ruhrgebiet so viel Roheisen, dass die hessischen Werke nicht mehr konkurrenzfähig waren. Am 12. April 1968 wurde das Werk endgültig aus Rentabilitätsgründen stillgelegt. 195 Mitarbeiter verloren ihren Arbeitsplatz. Das Oberschelder Hochofenwerk erzeugte in seiner 63-jährigen Geschichte ca. 2,3 Millionen Tonnen Roheisen.

 

 Die Ausnutzung der Kuppelprodukte

Zum wirtschaftlichen Betrieb eines Hochofens gehört eine weitgehende Verwendung der anfallenden Nebenprodukte, insbesondere dem Gichtgas und der Hochofenschlacke.

Mit dem brennbaren Gichtgas wurden Stromgeneratoren angetrieben. Der elektrische Strom versorgte die Maschinen des Hochofenwerkes und ab 1910 über eine Ringleitung die Betriebe des Hüttenvereins: der Ludwigshütte in Biedenkopf, der Eibelshäuser Hütte, der Neuhütte in Ewersbach, der Wilhelmshütte in Dautphetal und dem Werk in Breidenbach. Damit war das erste Hochspannungsfreileitungsnetz in Deutschland entstanden. Der Strom reichte dazu aus, dass sich eine Reihe von Industriebetrieben und Gemeinden, durch deren Gemarkung die Hochspannungsleitung lief, an das Stromnetz anschlossen. So hatten kleine Dörfer eher elektrischen Strom als manche Großstädte. Um den Stromabsatz auszudehnen, wurde im Jahre 1914 mit dem Dillkreis ein Stromlieferungsvertrag geschlossen, wobei der Kreis sich an den Ausbaukosten des Werkes beteiligte. Auch mit dem Elektrizitätswerk Westerwald wurde ein gegenseitiger Stromlieferungsvertrag geschlossen. Weitere geplante Ausweitungen dieser Netzleitung verhinderte der Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die gesamte Stromversorgung gliederte der Hüttenverein in eine eigene Gesellschaft aus, der „Hessen-Nassauischen Überlandzentrale GmbH“.

Nach dem Krieg hatte das Hochofenwerk stark unter einem sehr eingeschränktem Kohlebezug zu leiden, so dass nicht mehr genügend Strom erzeugt werden konnte. Auf der anderen Seite musste das Stromnetz in einer Größenordnung ausgebaut werden, die nicht mehr wirtschaftlich war. Um die ohnehin nach dem Krieg angespannte wirtschaftliche Situation nicht noch mehr zu gefährden, entschloss sich der Hüttenverein, die Hessen-Nassauische Überlandzentrale GmbH an den Bezirksverband Wiesbaden zu verkaufen, der später wieder mehrere Anteile an die Preußenelektra abtrat.

 

Heutige Situation

Erstaunlich schnell wurden die Anlagen des Hochofenwerkes demontiert und das Gelände für Zwecke der sich sehr ausgebreiteten Gemeinde genutzt. Andere Bereiche sind in ein Industriegebiet umgewandelt worden. Es existieren nur noch zwei bauliche Überreste der Anlage. Erhalten ist das Pförtnerhaus, ein halbrunder roter Klinkerbau sowie das Betonskelett des ehemaligen Kohlebunkers. Da das ehemalige Hüttengelände im ebenen Teil des ansonsten von steil aufragenden Bergen umgebenen Ortes liegt, weckte es schnell viele Begehrlichkeiten. Inzwischen ist auch die Bahnstrecke der Scheldebahn demontiert worden, so dass heute kaum noch sichtbar ist, dass hier früher ein blühendes Hochofenwerk gestanden hat. (Der Autor erinnert sich dankbar, dass er bei einer Betriebsbesichtigung im Jahre 1966 dieses baldige Ende nicht erkennen konnte).

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